Kleines Land mitten in Europa …
«Wir dürfen uns schon Sonderfall nennen»: Historiker Jürg Stadelmann über das Verhältnis der Zentralschweiz zum 1. August
Luzerner Zeitung 29. Juli 2020 S. 17
Über den Geschichtsunterricht in der Schweiz ein 60′-Gespräch
Februar 2018 in der Stadt Bern
NZZ am Sonntag, 24. Mai 2015, S.18 Thomas Maissen, Bürgertum arbeitet, Adel vererbt.pdf
Blick 20.3.2015
Ausstellung im Landesmusuem in Zürich: Marignano light Marc Tribelhorn in: NZZ 27.3.2015
Tages-Anzeiger 31.12.2014
Der Wille zur Geschichte – Geschichtsklitterung braucht es nicht. Marc Tribalhorn NZZ 17.1.2015
Das Jubiläumsjahr bietet Gelegenheit, historische Ereignisse in den richtigen Kontext zu rücken. Was bedeuteten sie einst, was wurde aus ihnen gemacht, was könnte man von ihnen ableiten? Es geht um sachliches Erklären und nicht um Verklärung. Wohin will die Schweiz, was sind ihre historischen Grundlagen? Damit sollten wir uns beschäftigen. Die Kernfrage dahinter bleibt: Wie viel Geschichte braucht die Zukunft? Sehr viel, kann die Antwort nur lauten. Wir haben lediglich unsere gemeinsame Vergangenheit. Geschichtsklitterung braucht es hingegen nicht.Das Jubiläumsjahr bietet Gelegenheit, historische Ereignisse in den richtigen Kontext zu rücken. Was bedeuteten sie einst, was wurde aus ihnen gemacht, was könnte man von ihnen ableiten? Es geht um sachliches Erklären und nicht um Verklärung. Wohin will die Schweiz, was sind ihre historischen Grundlagen? Damit sollten wir uns beschäftigen. Die Kernfrage dahinter bleibt: Wie viel Geschichte braucht die Zukunft? Sehr viel, kann die Antwort nur lauten. Wir haben lediglich unsere gemeinsame Vergan-genheit. Geschichtsklitterung braucht es hingegen nicht. Marc Tribalhorn
Marignano oder die Gedenkschlacht im Wahljahr Echo der Zeit (6.1.2015)
Thomas Maissen, Fakten und Fiktionen, Mythen und Lektionen NZZ 3.1.2015 NZZ-Standpunkte/Video/ 50′
André Holenstein, 1515–1815–2015: Die Schweiz ist keine Insel in Europa und war es nie NZZaS 19.10.2014
„Hurra wir haben verloren!“ – 499 Jahre Marignano – Medienecho
Ist wissenschaftsorientierter Geschichtsunterricht „linke“ Indoktrination
Rolf Bossard, Zürcher Mittelschullehrerverbandspräsident 2014/4
Abhängige Schweiz
Stefan Schmid Kommentar in der Aargauer Zeitung AZ 2. August 2014
„Der 2. August stellt die heile Welt infrage, die wir am 1. mit Wurst und Bier gefeiert haben.“
Mit offenen Karten: Die Schweiz – Eine Insel in Europa 12’30 (1. Juni 2014)
Georg Kreis in Tageswoche 18.2.14
Rene Rhinow, Welche Schweiz wollen wir? 20.2.14 Andreas Auer, Magie der direkten Demokratie 27.2.14
Kommentare in Schweizer Zeitungen 10. – 16.2.2014
NZZ a.S. 16.2.2014
Eidgenossen gegen die Welt von Robert Misik 12.2.2014
„Für viele Schweizer ist die EU tatsächlich so etwas wie ein Empire, das einen Belagerungsring um das Land zieht. Die EU, das sind etwa diese großmauligen Deutschen, die den Schweizer sagen wollen, wie sie ihre Dinge regeln sollen“,
schreibt Robert Misik in: de.qantara.de/schweizer-volksentscheid-gegen-zuwanderung.(12.2.2014)
Wacht auf! – Eine Analyse von Volker Lösch* Warum stiess die SVP-Initiative auf so wenig Widerstand?
Liebe neunundvierzig Komma sieben Prozent,
nach dem desaströsen Wahlergebnis, das die nationalistischen Parteien am rechten Rand in ganz Europa beflügelt hat, habe ich, ein deutscher Regisseur, der fünf Jahre in Zürich gelebt hat und derzeit am Theater Basel inszeniert, Fragen an euch.
Warum erhebt in diesem Land kein Prominenter aus euren Reihen seine Stimme gegen die rassistischen und fremdenfeindlichen SVP-Parolen? Wieso wird das Unwort «Masseneinwanderung» unwidersprochen als Diskussionsgrundlage akzeptiert?
Warum habt ihr der Bevölkerung nicht besser vermittelt, dass die Schweiz mit Dumping-Steuern anderen Staaten die Arbeitsplätze wegnimmt und so zu den Migrationsbewegungen in Europa beiträgt. Und dass es grotesk ist, deren Auswirkungen nun einseitig bekämpfen zu wollen. Wieso stellt ihr nicht den zerstörerischen europaweiten Steuerwettbewerb infrage?
Warum wart ihr in den letzten Wochen in der öffentlichen Diskussion so wenig präsent? Weshalb argumentiert ihr so zaghaft und halbherzig, statt den rechten Polemikern mit besseren Argumenten lustvoll Paroli zu bieten?
Warum habt ihr euren Landsleuten nicht unmissverständlich klargemacht, dass die Schweiz ein aktives Einwanderungsland ist, dass Mobilität und Migration heute zum Alltag in allen Ländern Europas gehören und dass es schlicht unmöglich ist, Einwanderung zu fördern und sie gleichzeitig abzulehnen?
Warum räumt ihr nicht mit diesem sinnfreien Gerede von Integration und Anpassung auf und haltet stattdessen fest, dass wir in Europa in einem gemeinsamen Kultur- und Denkraum leben, der das tolerante Einlassen aller auf alle fordert? Wieso habt ihr euch nicht entschieden gegen die populistische Propaganda gewandt, die das Zusammenleben wieder entlang ethnischer Linien organisieren will?
Warum habt ihr nicht angeprangert, dass ein Milliardär Millionen in die Ja-Kampagne gepumpt hat?
Weshalb erzählt ihr den Leuten nicht, dass es volle Züge, Busse und Strassen in jeder europäischen Stadt gibt – und dass das nichts mit der Einwanderung zu tun hat? Weshalb erzählt ihr nicht die Wahrheit über uns Deutsche, dass nämlich die meisten von uns eingeladen wurden, in die Schweiz zu kommen, sie also niemandem etwas wegnehmen, und dass die deutsche Einwanderung seit 2008 kontinuierlich zurückgeht?
Warum fallt ihr immer wieder auf die Ästhetik der Gegenseite herein und druckt lustlose Broschüren und fantasiefreie Plakate mit denselben Motiven? Warum besteht ihr nicht auf euren legitimen Positionen zum Thema Einwanderung, anstatt kleinlaut Forderungen der Rechten in eure Argumentationen aufzunehmen?
Weshalb weist ihr nicht auf den Zusammenhang von Neoliberalismus und Abstiegsängsten hin – und wie diese zu Fremdenfeindlichkeit führen können? Warum überlasst ihr diesen Diskurs kampflos den anderen?
Warum argumentiert ihr nicht mehrheitlich humanistisch? Warum sind die Menschenrechte in euren Diskussionen kaum ein Thema? Weshalb sind die negativen EU-Reaktionen und die wirtschaftlichen Konsequenzen die wichtigsten Gründe für euer Nein gewesen?
Liebe 49,7 Prozent: Ihr hättet es locker schaffen können. Mit ein wenig mehr persönlichem Engagement, Mut und politischem Gestaltungswillen hättet ihr die Ängstlichen und Rückwärtsgewandten nicht nur besiegen, sondern viele von ihnen auch überzeugen können.Wir Deutsche und Schweizer sind vergleichsweise reich. Wir sprechen dieselbe Sprache, sind uns mentalitätsmässig verwandt, und wir haben ähnliche politische Probleme zu lösen.
Wir 49,7 Prozent – ich glaube nicht, dass in Deutschland eine ähnliche Abstimmung viel anders ausgegangen wäre – dürfen da nicht passiv bleiben und hoffen, dass sich die Gegenseite schon nicht durchsetzt. Aussitzen reicht nicht mehr, wir müssen handeln.Handlungsfähig sind wir aber nur, wenn wir eine Vorstellung von einer wünschbaren Zukunft haben. Also müssen wir die Dinge beim Namen nennen und für die Welt kämpfen, die wir für möglich halten. Das Feld nicht den anderen überlassen. Uns einmischen.
* Volker Lösch ist deutscher Theaterregisseur. Seine Inszenierung von «Biedermann und die Brandstifter» hat am 27. Februar in Basel Premiere. http://tagi.ch/31564489 (12.2.2014)
Welsch ein Unsinn! Christophe Büchi, Westschweiz-Korrespondent der NZZ 12.2.2014
Weshalb haben die Romands am vergangenen Sonntag die SVP-Initiative «gegen Masseneinwanderung» mehrheitlich abgelehnt? Die Frage bringt den Westschweiz-Beobachter ein bisschen in Verlegenheit, denn er weiss, dass die Antwort vielschichtig ausfallen muss. Nicht so SVP-Übervater Christoph Blocher. Beim gewesenen Bundesrat gibt es so etwas wie Verlegenheit nicht. Seine Antwort ist, wie aus einem Interview der «Basler Zeitung» hervorgeht, kurz und bündig: «Die Welschen hatten immer ein schwächeres Bewusstsein für die Schweiz.» Ende der Durchsage.
So einfach ist das. Nächste Frage, bitte!
Das Problem mit dieser polemischen Aussage ist nur, dass sie nicht stimmt. Es trifft zwar zu, dass es in der Romandie weniger Schwinger, Treichler, Fahnenschwinger und Unspunnenstein-Stösser gibt als ennet der Saane (obwohl: es gibt sie auch hier). Doch seit wann ist dies ein Gradmesser fürs schweizerische Bewusstsein?
Weitere Fragen eines lesenden Zeitgenossen: Wer hat anno 1847 die Schweiz einigermassen heil durch den Sonderbundskrieg, unsere moderate Version des Sezessionskriegs, geführt? Der Genfer General Guillaume-Henri Dufour. Wer hat das Rote Kreuz gegründet und damit die Tradition der humanitären Schweiz erst so richtig begründet? Der Genfer Henri Dunant. Wer hat die Schweizer Armee mit Geschick durch den Zweiten Weltkrieg geleitet? Der Waadtländer Henri Guisan. Wer hat nach dem Zweiten Weltkrieg die aktive Neutralitätspolitik in Gang gesetzt? Der Neuenburger Max Petitpierre. Dank schwächerem Bewusstsein für die Schweiz?
1991 sollte in der Innerschweiz das 700-Jahr-Jubiläum der Schweiz gefeiert werden. Das Projekt ging beinahe in die Hose, nur mit Müh und Not konnte doch noch eine Feier auf die Beine gestellt werden. Ein Jahrzehnt später krempelten die Romands die Ärmel hoch und stemmten – mit Deutschschweizer Hilfe, cela va de soi – die lockere und international stark beachtete Landes-ausstellung Expo 02. Schwaches Schweizer Bewusstsein?
Man kann es drehen und wenden, wie man will, man kann alle erdenklichen mildernden Umstände geltend machen – der Spruch über die Romands fiel in einem Interview, er darf nicht auf die Goldwaage gelegt werden –, Tatsache bleibt: Blochers Spruch ist schlechte Polemik, ist Humbug. Die Romands haben nicht weniger patriotisches Bewusstsein. Aber sie haben ein anderes.
Volkes Stimme Von Günther Nonnenmacher in: FAZ 11.2.2014.
Eine Mehrheit der Schweizer fühlt sich fremdbestimmt, bedroht. Die EU sollte sich sorgfältig überlegen, wie sie auf das Ergebnis der Volksabstimmung reagiert.
Es ist nicht sicher, dass ein Referendum in einem Mitgliedsland der EU über Arbeitnehmerfreizügigkeit anders ausgegangen wäre als jetzt die Volksabstimmung gegen die „Masseneinwanderung“ in der Schweiz. Die Debatte, die in ganz Europa wegen der am 1. Januar in Kraft getretenen Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren ausgebrochen ist – da geht es nur oberflächlich gesehen um „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ –, weist in die gleiche Richtung. Die Stimmung, die diesem Phänomen zugrunde liegt, lässt sich auch nicht, wie die EU-Kommission das bisher versucht hat, mit Zahlen widerlegen, die das Problem auf sein wahres Ausmaß zurückführen sollen, etwa indem man, wie gerade Justizkommissarin Reding, die Armutseinwanderung von Roma als Stein des Anstoßes benennt.
Es gibt ein Gefühl in Europa – es ist gerade bei denen verbreitet, die nicht auf der Sonnenseite der Europäisierung und der Globalisierung stehen –, nicht mehr Herr des nationalen Schicksals oder, populärer ausgedrückt, nicht mehr „Herr im eigenen Hause“ zu sein. Das verstärkt das Empfinden von Fremdbestimmung, das die Bewältigung der europäischen Schuldenkrise für manche Völker mit sich bringt und das zu einer Ablehnung von Regierungen führt, denen – zu Recht oder zu Unrecht – vorgeworfen wird, dafür die Verantwortung zu tragen. Der Zulauf für rechtspopulistische Parteien – um nur die bekanntesten zu nennen: die UKIP in Britannien, der Front national in Frankreich, die FPÖ in Österreich –, denen für die Europawahlen im Mai glänzende Ergebnisse vorhergesagt werden, ist das Resultat dieser „Entfremdung“.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP), deren Taktgeber der Industrielle (Ems-Chemie) und Milliardär Christoph Blocher ist, lässt sich ohne weiteres in die Reihe dieser rechtspopulistischen Parteien einordnen. Zwar hat sie, entsprechend der Schweizer „Zauberformel“, nach der alle Parteien an der Regierung beteiligt sind, ein Bein „im System“; aber ihre eigentliche Stärke ist das andere, das außerparlamentarische Bein. Zu Zeiten hatte Blocher, um seine Partei auf Vordermann zu bringen, eine eigene Bewegung gegründet, die „Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz“ (AUNS); aber nach einer Abspaltung ist die SVP inzwischen voll auf Linie, und das heißt: auf Anti-Ausländer- und auf Anti-EU-Kurs. Sie treibt mit dem Instrument der Volksabstimmung, einem Wesensmerkmal der Schweizer Demokratie, die anderen Parteien, die Regierung, aber auch Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände vor sich her.
Widersprüchliche Schweiz
Das war so 2008 bei der sogenannten Minarett-Initiative. Als damals das Bedenken aufkam, die Schweiz verstoße mit dem Verbot weiterer Minarettbauten (es gab ganze vier davon im Land) gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, forderte die SVP sogar, diese aufzukündigen, weil nationales Recht vor (bindendem) Völkerrecht stehen müsse – ausgerechnet in der Schweiz, der Heimat des Roten Kreuzes und der UN-Stadt Genf, die sich immer als Hort des Völkerrechtes gebärdet hatte. Es folgte die Initiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer“, die 2010 angenommen wurde. Anders gelagert, aber im populistischen Trend lag 2013 die erfolgreiche „Abzockerinitiative“, die gegen die teilweise astronomischen Abfindungen für Manager und überhöhte Boni für Banker gerichtet war.
Es ist ein widersprüchliches Bild, das die Schweiz damit abgibt: wirtschaftlich und finanzpolitisch eng mit der Welt verflochten, kosmopolitisch in den großen Städten wie Zürich und Genf, gleichzeitig ängstlich auf ihre Eigenheiten und ihren Sonderstatus bedacht. Es ist gerade die Unterspülung dieses Sonderstatus durch Abkommen mit der EU, die den Widerstand befeuert. Dazu kommt der vor allem von Amerika ausgeübte, teilweise brachiale Druck, das Bankgeheimnis aufzugeben, der die Schweiz dazu gezwungen hat, auf eine „Weißgeld-Strategie“ umzustellen; die Folgen für den Finanzplatz sind schwer zu übersehen. Kein Zweifel: Eine Mehrheit der Schweizer fühlt sich fremdbestimmt und deshalb bedroht.
Die EU sollte sich sorgfältig überlegen, wie sie auf das Ergebnis der Volksabstimmung reagiert. Die Freizügigkeit ist zwar das Kernstück eines ganzen Vertragswerkes (Bilaterale I), das sie mit der Schweiz geschlossen hat, die Aufkündigung dieses Prinzips könnte das ganze Paket hinfällig machen – zum Schaden der Schweiz, aber auch zum Schaden der EU. Ob die Regierung in Bern, die jetzt drei Jahre Zeit hat, das Abstimmungsergebnis in Gesetzesform zu bringen, dies mit klugen Regelungen (vor allem mit großzügigen Einwanderer-Kontingenten) abwenden kann, wird sich zeigen. Die EU sollte allerdings auch bedenken, dass die Reaktion der Schweizer der Stimmung in vielen ihrer Mitgliedsländer entspricht. Im Maßstab der Globalisierung ist Europa nicht viel größer als die Schweiz im europäischen Kontext. Deutschland teilt in vieler Hinsicht die Probleme der Schweiz, etwa eine alternde Bevölkerung, was zu Problemen auf dem Markt für qualifizierte Arbeitnehmer führen wird. Einwanderung wird nötig sein. Die damit verbundenen Überfremdungs- und Abstiegsängste lassen sich aber nicht dadurch überwinden, dass man sie weitgehend ignoriert.
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ALLES KOMMT GUT!
vom 10. Februar 2014
Was macht ein guter Schweizer, wen er mit radikaler Zukunftsungewissheit konfrontiert wird? Wenn er nicht weiss, ob ihm der Himmel auf den Kopf fällt oder doch alles gut und gemütlich bleibt? Er lächelt die Verunsicherung weg. Er redet die Sache klein. Kirche im Dorf lassen. Pragmatisch bleiben. Alles halb so wild. So lautet der helvetische Ur-Reflex. Gibt es ein Problem mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative? Aber wieso denn! Niemand weiss, was nun geschehen wird. Und das Schweizer Politik- und Mediensystem bemüht sich redlich so zu tun, als ob das ein gutes Zeichen wäre.
Die grossen Beschwichtiger dürften sich täuschen. Schon am Abstimmungsabend sind eine Reihe von unangenehmen Folgen des Volksentscheides deutlich geworden.
1. Die SVP hat ein Problem damit, in der Verantwortung zu stehen. Postwendend wurden von der Volkspartei Forderungen für eine sofortige Umsetzung aufgestellt, insbesondere die Forderung nach einer sofortigen Einführung des Inländervorrangs. Das ist natürlich Nonsens: Der Inländervorrang kann erst mit dem Kontingentsystem eingeführt werden, und das Kontingentsystem sollte – sofern möglich – zunächst mit der EU verhandelt werden. Die Forderung nach Sofort-Umsetzung erfüllt eine andere Funktion: Die SVP will nicht die Verantwortung übernehmen für die potenziell sehr unangenehmen Folgen ihres Siegs. Sie wird sie der bundesrätlichen Umsetzung anlasten.
2. Die EU wird gezwungen sein, mit Härte zu reagieren – nicht obschon, sondern weil es in vielen EU-Ländern nationalistische Bewegungen gibt, welche die Personenfreizügigkeit ebenfalls abschaffen wollen. Le Pen, Wilders und Farage sind die begeistertesten Gratulanten. Wenn Brüssel die Schweiz nicht abstraft, wird es innereuropäisch jede Glaubwürdigkeit verlieren. Von den vier Grundfreiheiten ist die Personenfreizügigkeit politisch die wichtigste. Man wird vielleicht einen Weg finden, um den verschrobenen Eidgenossen ihre Extra-Wurst zuzugestehen. Aber man wird dafür sorgen müssen, dass es ihnen weh tut. Sehr weh tut.
3. Der Bundesrat wollte nicht denselben Fehler begehen wie nach der Niederlage im EWR-Abstimmungskampf und hat es peinlichst vermieden, von einem „schwarzen Tag“ zu sprechen und zu betonen, wie schwerwiegend der Entscheid ist. Stattdessen verbeugt man sich ehrfurchtsvoll vor dem so genannten Volkswillen und versichert, man werde das Beste daraus machen. Die Haltung entbehrt nicht der Heuchelei: Die aussenpolitischen Verwerfungen könnten epochale Dimensionen haben. Es wäre schön, wenn die Landesregierung diese Tatsache den Stimmbürgern nicht verheimlichen würde.
4. Die SVP will sich nicht festlegen, wie viele Einwanderer für sie denn richtig und tolerabel wären. Im Abstimmungskampf zirkulierte die Zahl von 40 000 bis 45 000 zusätzlich niedergelassenen Ausländern pro Jahr, aber da dies viel zu wenige wären, um den aktuellen Arbeitskräftebedarf zu decken, würde man sich von dieser Zahl wohl auch wieder verabschieden können. Allerdings soll eine deutliche Senkung der heutigen Zuwanderung erzielt werden. Kontingente, die so gross sind, dass sie den status quo der Migration fortsetzen, wären politisch kaum vertretbar. Wie löst die SVP den Widerspruch zwischen Arbeitskräfte-Bedarf und Senkung der Einwanderungszahlen? Sie will, wie das Toni Brunner gleich in der Elefanten-Runde deklarierte, zurück zum Saisonnier-Statut. Befristete Arbeitsbewilligungen, ohne Recht auf Sozialleistungen und vor allem ohne Recht auf Familiennachzug – auf diesem Weg sollen die Ausländerzahlen gesenkt werden. Abgesehen davon, dass das Saisonnier-Statut eine barbarische Form der Diskriminierung darstellt, würde seine Renaissance zur allerfälschesten Strukturentwicklung des Schweizer Arbeitsmarktes führen: Nur im Tiefstlohnbereich sind Migranten bereit, eine solche Rechtlosigkeit zu akzeptieren. Wir werden unsere Wirtschaft vermehrt auf Landwirtschaft (Spargelstecher) und Massenindustrieproduktion (ungelernte Arbeiter) zurückdrehen müssen, wenn Saisonniers nun das Gros der Schweizer Arbeitsimmigration abdecken sollen. Hochqualifizierte Einwanderer werden ohne Frau, Kind und Sozialversicherung nicht kommen. Pharma und Maschinenbau dürften einen Teil ihrer Produktion in EU-Länder auslagern, weil sie nur noch dort die hochqualifizierten Fachkräfte auf unkomplizierte Weise bekommen. Kein Problem, dafür steigern wird die Spargelproduktion!
5. Der Kampf um die flankierenden Massnahmen ist eröffnet. Wie twittete doch FDP-Nationalrat Ruedi Noser so schön: „Da wir jetzt zu Kontingenten wechseln, brauchen wir auch keine weiteren flankierenden Massnahmen mehr.“ Die SVP wird versuchen, einen Teil der Bürgerlichen mit ihrer Niederlage zu versöhnen, indem sie Hand bietet zur Schleifung des gesetzlichen Schutzes von Niedriglöhnen. Es würde nicht überraschen, wenn die Einwanderungsbeschränkung für viele Arbeitnehmer mit Schweizer Pass eine deutliche Verschlechterung brächte.
Aber über alle diese Probleme wollen wir uns nicht zu grosse Sorgen machen. Alles halb so wild. Muss man einen Volksentscheid nicht ernst nehmen? So ernst, dass man ihn irgendwie ja auch gutheissen sollte? Ist es nicht anerkennenswert, dass „das Unbehagen im Volk“ nun ein Ventil gefunden hat? Auch wenn in den Ballungszentren, die von Einwanderung tatsächlich betroffen sind, die Initiative abgelehnt wurde, während sie in der ruralen Schweiz, in die sich nie ein Einwanderer verwirrt hat, geradezu triumphiert? Die Zukunftsunsicherheit ist immens. Es herrscht die grosse Ahnungslosigkeit. Aber hey, direkte Demokratie hat immer Recht. Bitte lächeln. Es kommt gut.
Ben Vautier 1992